Königstraße 8, „Haus Eichenwald“
Im Jahr 1895 stellte der Armenarzt Dr. med. Overhage einen Bauantrag, auf dem Grundstück des abgebrochenen Wohnhauses der Familie Bispinck, einen Neubau errichten zu dürfen.
Kurz nach Fertigstellung starb er, das Gebäude ging in den Besitz der jüdischen Familie Sally Rose, die 1921 das Haus der ebenfalls jüdischen Familie des Viehhändlers Samuel Eichenwald verkaufte. Nach der Pogromnacht zog er zu seiner Tochter und deren Mann nach Almelo/NL.
Seitdem wohnten hier sein Sohn Karl Eichenwald mit Ehefrau Grete, geb. Seligmann; später wurden die Söhne Helmut und Erwin geboren.
Unter dem Druck des Bürgermeisters der Stadt Horstmar auf Grete Eichenwald, deren Mann im Zuge der Pogromnacht verhaftet worden war, verkaufte sie das Haus weit unter Preis, in der Hoffnung auf Freilassung ihres Mannes. 1942 wurde Karl Eichenwald im KZ Buchenwald, die Kinder Helmut und Erwin im KZ Auschwitz von den Nationalsozialisten ermordet.
Grete Eichenwald überlebte das KZ in Riga, kehrte nach Horstmar zurück, wo ihr das Haus Stadt 96, heute Königstraße 8 wieder übereignet wurde. Sie wanderte aus nach Chile und verkaufte es einer Horstmarer Familie.
Heute zeugen noch die vor dem Haus verlegten Stolpersteine vom Schicksal der Familie Eichenwald in der Königstraße.
In den Kriegsjahren befand sich in dem Haus ein Kindergarten und ein BDM – Heim (Bund deutscher Mädel, eine Abteilung der Hitlerjugend, in der Mädchen vom 10.–18. Lebensjahr organisiert waren)
Nach dem Krieg bot das Haus sowohl Vertriebenen, ehemaligen Zwangsarbeitern und Horstmarer Familien Unterkunft bis in die achtziger Jahre. Am 20. September 1989 wurde das Haus unter Denkmalschutz gestellt.
Nachdem die Stadt das Haus erworben hatte, gab es mehrere Versuche, es sinnvoll zu nutzen, bis sich im Jahre 2005 Familie Stahl entschloss, dieses Haus zu kaufen und zu renovieren. Heute befindet sich hier ein Gesundheitszentrum mit Arztpraxen und einer physiotherapeutischen Abteilung. Was im Jahr 1895 Dr. Overhage begann, setzt seit 2005 Dr. Reinhard Stahl fort. So wurde nicht nur das Haus gerettet, sondern auch ein Stück jüdischer Geschichte: „Haus Eichenwald“
Ausstellung Eichenwald — ein Redebeitrag
Wir eröffnen heute die Ausstellung “Eichenwald”, eine Ausstellung über Geschichte, Geschichte
im Allgemeinen, Geschichte im Besonderen — doch ohne auf das Besondere und Allgemeine im Besonderen genau einzugehen — oder vielleicht doch?
Hier gehen zwei Künstler künstlerisch mit Geschichte um, etwas direkter der eine, etwas distanzierter der andere; und deswegen werden hier zwei diskussionsmöglichkeiten angeboten, aber doch auf gleicher inhaltlicher Wellenlänge.
Und es ist in der Tat notwendig, die Geschichte dieses Hauses, das unter anderem einmal der jüdischen Familie Eichenwald gehörte, aufzugreifen, wird doch in einem ziemlich merkwürdigem, gleichwohl offiziösem Papier, das nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich verquast ist, der denkbar unglückliche Versuch unternommen, die Geschichte des Hauses und ihrer Familien niederzulegen. Mit einer solchen Geschichtsklitterung, wird man kaum der Leiden der Menschen jüdischen Glaubens gerecht, die dieses Haus einmal bewohnt haben, es wird vielmehr relativiert.
In einem Raum dieser Ausstellung — beide Künstler sind in ihm mit Arbeiten vertreten — wird, so glaube ich, focusiert, was in allen anderen Räumen an unterschiedlichen Facetten, Hintergründen, Überlegungen, Inszenierungen zur Geschichte dieses Hauses und seiner Bewohner dargestellt und künstlerisch
diskutiert wird. Und dies auf mehreren Ebenen: inhaltlich, formal, ästhetisch, historisch.
Mitten in diesem Raum ein aus zufällig gefundenen Baumaterialien aus diesem Haus aufgeschichteter sockelartiger weißer Katafalk, stufig und oben mit einer gespaltenen Eiche sargdeckelartig abgeschlossen ( S.26 ). Eine Arbeit von Jupp Ernst, der hier eine “Sockelidee” von Michael Edelmann aus anderen Räumen aufgreift, also in Dialog mit ihm tritt. Dort — in den anderen Räumen — finden sich alte Koffer auf steinernen Sockeln. Wer musste aus diesem Hause verreisen? Verreisen wohin? Verreisen warum?
An der Seitenwand ein querformatiges Bild von Michael Edelmann, in putzartiger und putzfarbener Struktur, die wir auch an manchen Wänden in diesem Haus finden, in einem Haus der eigentümlichen wie erschreckenden Wandlungen und Verwandlungen. Ein Bild, zentral in ihm positioniert ein Körperschatten, lang ausgestreckt und fast körperlos flach, fast gesichtslos grau, fast nur noch ein aschfarbener Hauch: “Husch, da fiels in Asche ab.” Und hinterlässt noch Spuren, hinterlässt doch Spuren, Auch wenn der Katafalk leer und mit
einer deutschen Eiche, dem Symbol tümelnder Geschichtsverschleierung, abgedeckelt ist: Deutschland, Deutschland über alles .….
wächst kein Gras, wachsen keine Eichen.
Fast zu übersehen, rechts neben der Tür, zwei schmale Rahmen parallel gehängt, hell, aus Holz, doch ohne Bild? Doch mit Bild! Ein “Blick auf das Wand-Bild” konzentriert unsere Augen auf Schichten von Papier, Zement, Kalk und Staub. Geschichten, Geschichte und Ge-schichtetes auf wenigen Millimetern.
Geschichte dieser Bewohner, Geschichte dieses Hauses, Geschichte dieser Straße, Geschichte dieser Stadt, Geschichte dieses Deutschlands. Wer hat welche Schicht geputzt? Wer hat welche Schicht gestrichen, gespachtelt, geklebt?
Geschichte erzählt Geschichten. Dieser Raum, dieser gemeinschaftlich künstlerisch gestaltete Raum, erzählt viele Geschichten. Reale und vermeintlich irreale. Aber auch die vermeintlich irrealen sind hunderttausendfach irreale Realität geworden. Hundertausendfach?
Geschichte zu begreifen ist schwierig, Geschichten zu begreifen ist uns näher. Dieses Haus kann Geschichten erzählen. Die ersten Absätze haben Jupp Ernst und Michael Edelmann mit ihrer Ausstellung “niedergeschrieben”, zu Ende erzählen müssen die Betrachter. Und sie werden dann — da bin ich mir sicher — zu dem Schluss kommen, dass die Menschen dieses Hauses, die Namen hatten, die Gesichter hatten, nicht, ich zitiere, “aufgrund der politischen Entwicklung in Deutschland” haben Horstmar verlassen müssen, sondern weil sie von Deutschen totgemacht werden sollten und wurden durch industrielle und logistische Präzision: Made in Germany. Und dann sind die Besucher dieser Ausstellung mit ihren Geschichten über dieses Haus mitten in Geschichte, auch in der eigenen.
Es ist den Spurensuchern Jupp Ernst und Michael Edelmann zu danken für ihr schwieriges Unterfangen, Geschichte und Geschichten losgetreten zu haben, im Allgemeinen und im Besonderen, mit einer Ausstellung, die etwas Besonderes ist im zu Allgemeinen und im allzu Gemeinen.
Martin Rehkopp